Die Marathondebatte über die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff läuft, ihre Suspendierung gilt als sicher. Was wird der linken Politikerin vorgeworfen? Und wie geht es in Brasilien weiter? Der Überblick.
Die Nacht ist längst angebrochen in Brasilien, aber im Senat von Brasília herrscht reges Treiben: Die 81 Senatoren debattieren seit Stunden über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Staatspräsidentin Dilma Rousseff. Vor dem Gebäude demonstrieren Gegner und Anhänger der Staatschefin.
Es ist eine Marathonsitzung: 71 Senatoren haben sich auf die Rednerliste setzen lassen, jeder von ihnen hat 15 Minuten Redezeit. Anschließend folgt die Abstimmung. Die einfache Mehrheit reicht für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens. Nach 57 Rednern zeichnet sich ab, dass diese Mehrheit zu Stande kommt: 40 Senatoren sagten, sie würde für das Impeachment stimmen, 16 lehnten es ab, ein Senator ließ seine Entscheidung offen. Die Abstimmung soll gegen 11 Uhr MESZ beginnen.Was wird Rousseff vorgeworfen?
Das Amtsenthebungsverfahren wird nicht mit Korruptionsvorwürfen begründet, sondern primär mit Bilanztricks im Staatshaushalt. Über staatliche Banken werden Sozialprogramme wie die Familiensozialhilfe bezahlt. Die Regierung soll zum Beispiel die Überweisung von 3,5 Milliarden Reais (900 Millionen Euro) für ein Hilfsprogramm für Bauern bewusst verzögert haben, um das Defizit zu verringern - das haben aber auch schon Vorgängerregierungen gemacht.
Damit geben staatliche Banken der öffentlichen Hand aber sozusagen ein Darlehen, was verboten ist - auch für die Finanzmärkte kann so die wahre Haushaltslage einige Zeit verschleiert werden. Zum anderen geht es um sechs Dekrete für milliardenschwere Kredite für staatliche Ausgaben, die ohne die Zustimmung des Kongresses erlassen worden sind. Doch ob wirklich Verbrechen gegen ihre Verantwortung als Präsidentin ("Crime de Responsabilidade") vorliegen, ist umstritten.
Rousseff weist die Vorwürfe zurück und spricht von einem "Putsch". Sie sei bis zum 31. Dezember 2018 gewählt, einen Rücktritt schließt sie aus. Ihr Versuch, das Amtsenthebungsverfahren in letzter Minute stoppen zu lassen, war am Mittwoch vom Obersten Gericht des Landes zurückgewiesen worden.
Was passiert bei einer Einleitung des Impeachments?
Zunächst wird Rousseff für 180 Tage suspendiert. In dieser Zeit werden die Vorwürfe unter Beteiligung des Obersten Gerichtshofs geprüft. Dann muss der Senat - dieses Mal mit einer Zweidrittelmehrheit - über eine endgültige Amtsenthebung entscheiden. Wird das Quorum verfehlt, würde Rousseff wieder das Amt übernehmen.
Rousseff selbst hat sich seit Tagen auf ihr Ausscheiden aus dem Amt vorbereitet. Sie will nach Angaben von Mitarbeitern ihre Minister entlassen und sie bitten, sich nicht an einer Übergangsregierung zu beteiligen.
Wer übernimmt Rousseffs Amt?
Nach der erwarteten Suspendierung Rousseffs übernimmt Vizepräsident Michel Temer übergangsweise den Posten an der Staatsspitze. Der 75-jährige Politiker der Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) hatte die Koalition mit Rousseffs linker Arbeiterpartei im März aufgekündigt. Er traf sich während der Senatssitzung mit Vertrauten in seinem Amtssitz in Brasília, dem Palácio do Jaburu, um den Wechsel vorzubereiten. Auch die mögliche neue "First Lady", seine Ehefrau Marcela (32), traf mit dem kleinen Sohn Michelzinho im Palast ein.
Temer ist in Brasília allerbestens vernetzt, ein Strippenzieher, schon zwei Mal war er Präsident des Abgeordnetenhauses.
Was plant Temer?
Am 5. August werden sich die Augen der Welt auf Michel Temer richten: Dann eröffnet der Interimspräsident die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. 80 bis 100 Staats- und Regierungschefs werden erwartet, kaum jemand kennt Temer näher.Ein Hoffnungsträger ist er nicht, sein geplantes Kabinett ist ebenfalls nicht frei von Personen, die unter Korruptionsverdacht stehen - und wenn er die Sozialprogramme kürzen soll, droht eine Protestwelle.
Temer will sich als Reformer profilieren, Finanzmärkte und Wirtschaft setzen auf ihn. Einer Umfrage zufolge sind aber 58 Prozent der Bürger auch für seine Amtsenthebung - er ist Teil der bisherigen Regierung und für die Probleme mitverantwortlich, seine Zustimmungswerte bewegen sich auf Rousseffs Niveau. Daher hat er kein Interesse an Neuwahlen.