Die EU-Kommission wird deutlich: Sie verwarnt die polnische Regierung offiziell wegen der umstrittenen Justizreform. Nun droht eine Eskalation - denn Warschau zeigt kein Zeichen des Einlenkens.
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Das Ultimatum lief schon vor mehr als einer Woche ab, doch jetzt macht die EU-Kommission ernst. Sie hat die polnische Regierung ganz offiziell wegen ihrer umstrittenen Justizreform verwarnt. Damit hat das im Januar in die Wege geleitete Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Polen formell begonnen.
Offenbar versuchte die Kommission bis zuletzt, einen Kompromiss zu finden. Zwei Mal sei er zu Gesprächen nach Warschau gereist, und noch am Dienstagabend habe er mit Polens Regierungschefin Beata Szydlo telefoniert, sagte Kommissions-Vize Frans Timmermans. "Aber trotz aller unserer Bemühungen konnten wir noch keine Lösungen für die Hauptprobleme finden." Deshalb werde man nun eine Stellungnahme nach Warschau schicken. "Ich hoffe, das wird den Dialog voranbringen", sagte Timmermans.Es ist das erste Mal, dass das erst seit März 2014 überhaupt mögliche Verfahren zum Schutz des Rechtsstaats gegen einen EU-Mitgliedstaat eingesetzt wird. Im Extremfall könnte es zum Entzug von Polens Stimmrecht im Europäischen Rat führen.
Brüssel wirft Warschau vor, rechtswidrig die Vereidigung mehrerer Verfassungsrichter zu verweigern, die noch von der Vorgängerregierung ernannt wurden. Außerdem hat die Regierung der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine Justizreform angestoßen, die nach Ansicht der Kommission das Verfassungsgericht beeinträchtigt. Das Gericht selbst hatte die Reform im März für verfassungswidrig erklärt - doch die Regierung erkennt das Urteil nicht an.
Die Kommission beurteilt das Vorgehen Warschaus nun als "systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit", sagte Timmermans. Diese aber sei "einer der Grundpfeiler der Europäischen Union" - und die Kommission komme ihrer Aufgabe nach, die EU-Verträge zu bewahren. Warschau muss jetzt zeitnah antworten.
Verschwörungstheorien aus Warschau
Andere Punkte, die in Polen mitunter für Massenproteste gesorgt haben, lässt die Kommission in dem Verfahren außer Acht, etwa die Beschneidung der Unabhängigkeit öffentlich-rechtlicher Medien oder die Gleichschaltung der Geheimdienste. Doch die Justizreform allein genügt schon, den Streit zwischen Brüssel und Warschau bedrohlich eskalieren zu lassen. Denn Polens Regierung macht keinerlei Anstalten, einzulenken.
Im Gegenteil: Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro warf der Kommission am Mittwoch eine Einmischung in innere Angelegenheiten Polens vor. Die nun beschlossene Verwarnung bestätige, "dass sich die EU-Kommission durch einflussreiche Vertreter der politischen Opposition in einem inneren Streit engagiert, in die Angelegenheiten eines souveränen Staates eingreift, die Opposition unterstützt und gegen eine Regierung auftritt, die für die Kommission unbequem ist". Er spekulierte, dass die Kommission eigentlich ganz andere Ziele verfolge: Polen solle dazu gebracht werden, "Zehntausende Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen".
Jaroslaw Kaczynski, Chef der allein regierenden PiS, drohte der Kommission in einem am Montag veröffentlichten Interview mit der Zeitschrift "Do Rzeczy" mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof, sollte sie das Verfahren gegen die polnische Regierung weiter vorantreiben. Das sei "jederzeit möglich", so Kaczynski. Das Verfahren sei "herbeigeträumt" und überschreite den Rahmen der EU-Verträge, sagte der PiS-Chef, der als Polens eigentlicher Regent gilt.
Zur schärfsten Eskalation kommt es wohl nicht
Das Problem: Da er kein Regierungsamt bekleidet, kann die Kommission nicht direkt mit ihm verhandeln. Timmermans erklärte am Mittwoch, dass er in dem Rechtsstaats-Verfahren nicht mit Kaczynski in Kontakt stehe.Sollte die polnische Regierung sich weiterhin nicht bewegen, würde die Kommission eine öffentliche Empfehlung erteilen, die Defizite innerhalb einer bestimmten Frist zu beheben. In Phase drei wird geprüft, ob Polen wirklich gehandelt hat. Sollte dieses Follow-up nicht zufriedenstellend verlaufen, kann die Kommission Maßnahmen nach Artikel 7 des EU-Vertrags einleiten. Er sieht bei einer "schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung" der EU-Grundwerte als schwerste Sanktion eine Aussetzung der Stimmrechte des Mitgliedstaates vor.
Dass es dazu kommt, gilt allerdings als unwahrscheinlich, weil dazu ein einstimmiger Beschluss der EU-Mitgliedstaaten notwendig wäre. Die rechtskonservative Regierung Ungarns aber, die der polnischen nahe steht, hat bereits deutlich gemacht, dass sie in einem solchen Fall nicht gegen Polen stimmen würde.
Zusammengefasst: Der Streit zwischen Brüssel und Warschau droht weiter zu eskalieren. Die polnische Regierung weigert sich standhaft, ihre umstrittene Justizreform zu korrigieren. Die EU-Kommission hat deshalb nun das Verfahren zum Schutz des Rechtsstaats formell eingeleitet. Es ist das erste Mal, dass dieses neue Instrument gegen einen EU-Staat eingesetzt wird.