Streiks und Proteste: Bigott in Frankreich

dimanche 29 mai 2016

Proteste in Frankreich

Proteste in Frankreich

In Frankreich zeigt sich, wie ein allzu großer Sozialstaat an seinen eigenen Versprechen erstickt. Das Land blockiert sich selbst und droht grandios zu scheitern - politisch und finanziell.

Sie sind wieder auf den Barrikaden: Frankreichs Gewerkschaften blasen zum Kampf. Mit einer Serie von Streiks wollen sie das Land in den kommenden Wochen lahmlegen - zur Unzeit, am 10. Juni beginnt dort die Fußball-Europameisterschaft.

Premier Manuel Valls hat bereits breitbeinig erklärt, er werde den Kampf aufnehmen: Die geplanten Arbeitsmarktreformen würden durchgezogen. Nicht die Gewerkschaften regierten das Land, sondern die gewählten Vertreter des Volkes in Parlament und Regierung.

Das ist richtig, einerseits. Andererseits trennt ein tiefer Graben das Volk und seine Vertreter: Nur noch ein Fünftel der Franzosen vertrauen Regierung und Parlament, ganze acht Prozent den politischen Parteien, wie Umfragen aus den vergangenen Monaten zeigen. Von der Glaubwürdigkeitslücke der traditionellen Eliten profitieren linke Gewerkschaften, voran die CGT, und rechte Populisten, insbesondere Front-National-Chefin Marine Le Pen, die Chancen hat, die Präsidentschaftswahlen kommendes Jahr zu gewinnen.

Was ist los links des Rheins? Und was haben die Entwicklungen dort mit Deutschland zu tun?

In Frankreich zeigt sich, wie ein übergroßer Sozialstaat an seinen eigenen Versprechen ersticken kann - und wie das beharrliche Ignorieren der Realität irgendwann das politische und wirtschaftliche System unterminiert.

Eigentlich haben es die Franzosen gut. Sie leben in einem immer noch reichen Land; die Pro-Kopf-Einkommen liegen nur knapp unter den deutschen. Das Gesundheitsniveau ist hoch, ebenso die Lebenserwartung. Kaum irgendwo lassen sich OECD-Analysen zufolge Arbeit und Privatleben so gut verbinden.

Franzosen gehen früh in Rente (im Schnitt mit 60 Jahren) und bekommen dann ein vergleichsweise hohes Ruhestandsgeld. Zuvor arbeiten sie so wenige Wochenstunden wie kaum eine andere Nation. Und während in vielen anderen Ländern seit Mitte der 2000er Jahre die durchschnittlichen Jahresarbeitszeiten wieder angestiegen sind, auch in Deutschland, liegen sie in Frankreich unverändert niedrig, wie die Stockholmer Wirtschaftsforscher Timo Boppart und Per Krusell ermittelt haben.

Kein anderer westlicher Staat gibt soviel für Soziales aus: 33 Prozent der Wirtschaftsleistung fließen in Renten, Gesundheit oder Arbeitslosenunterstützung (zum Vergleich: Deutschland: 26 Prozent). Ach ja, auch die gesetzlichen Mindestlöhne sind so hoch wie nirgends sonst in der EU (zwei Drittel des mittleren Einkommens).

Das Geld reicht nicht mehr

Auf den ersten Blick sehen Frankreichs Strukturen so aus, wie man sich landläufig Skandinavien vorstellt - ein wohlhabendes Land mit Rundumabsicherung.

Aber es gibt zwei Haken:

  • Erstens sind die Franzosen nicht gerade glücklich mit ihrer Lage. Wenn sie nach ihrer allgemeinen Lebenszufriedenheit gefragt werden, schneidet Frankreich so schlecht ab wie kein anderes europäisches Land auf vergleichbarem Wohlstandsniveau (mit einem Wert von 5,4 auf einer Skala von 0 bis 10), viel schlechter als Skandinavien (Schweden: 8,8) oder Deutschland (7,9), so die OECD.
  • Zweitens kann sich Frankreich sein hohes Absicherungsniveau längst nicht mehr leisten. Seit 2009 steigt jedes Jahr die Steuerlast: Inzwischen kassiert der Staat 48 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), ein EU-Spitzenwert. Dennoch reicht das Geld nicht. Die Verschuldung nimmt immer weiter zu. Die staatlichen Verbindlichkeiten haben bald 100 Prozent des BIP erreicht. Dazu kommen steigende Schulden der Unternehmen und privaten Haushalte (143 Prozent des BIP). Um die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen, nehmen Staat und Wirtschaft immer mehr Kredite im Ausland auf.

Schleichend hat Frankreich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Die EU-Kommission hat kürzlich vorgerechnet, dass das Land seit der Jahrtausendwende ein Viertel seines Exportmarktanteils verloren hat. Die Unternehmen haben versucht gegenzusteuern, indem sie niedrigere Gewinnmargen hingenommen haben. Doch dadurch wiederum fehlen Gelder für Investitionen. Zuletzt hat sich die Lage zwar durch billiges Öl und die Abwertung des Euro entspannt. Aber das wird nicht von Dauer sein, zumal sich die Europäische Zentralbank (EZB) wohl zunächst mit weiteren Maßnahmen zurückhalten wird (achten Sie Donnerstag auf die EZB-Ratssitzung).

Frexit-Szenario keineswegs irreal

Frankreich lebt eindeutig über seine Verhältnisse. In Skandinavien kann eine wettbewerbsfähige Wirtschaft großzügige Sozialstaaten tragen. In Frankreich geht diese Rechnung nicht mehr auf: Das gallische Wachstum ist schwach, es entstehen zuwenige Jobs. Arbeitslosigkeit ist das Top-Thema im Land. Ein Viertel der Jugendlichen sind betroffen. Die Regierung will Beschäftigungshürden einreißen, indem sie den Arbeitmarkt flexibilisiert. Doch die Verunsicherung ist so groß, dass kaum jemand darauf vertraut, weniger Jobsicherheit könnte am Ende zu besseren Jobchancen führen.

Frankreich steckt in einem allmählichen Niedergang. Geht es weiter wie bisher, fährt das Land irgendwann vor die Wand. Gefährlicher als die finanziellen Rückwirkungen dürften die politischen sein. Das Land steckt schließlich nicht in einer akuten Krise, die unabweisbar zum Umsteuern zwingen würde. Präsident François Hollande hat deshalb zu lange gehofft, er könne weitermachen wie gehabt - ein Akt links-säkularer Bigotterie. Erst spät ist er auf Reformkurs umgeschwenkt. Umso schwerer fällt es seiner Regierung jetzt, die Bürger zu überzeugen.

Nun versprechen andere, es könne im Prinzip weitergehen wie gehabt. Marine Le Pen will das Gewohnte bewahren, indem sie ausländischen Wettbewerb draußen hält. Deshalb: Zollschranken runter, raus aus dem Euro, möglichst raus aus der EU - damit alles bleiben kann, wie es ist, inklusive noch höherem Mindestlohn, 35-Stunden-Woche und Rente mit 60. Ein illusionistischer Kurs, natürlich. Europa in seiner heutigen Form wäre dann am Ende, Frankreichs Wirtschaft in großen Teilen auch. Dennoch ist dieses Frexit-Szenario keineswegs irreal.

Ein großer Sozialstaat schafft nun mal nicht unbedingt eine zufriedene, befriedete Gesellschaft. Manchmal ist gerade das Gegenteil der Fall.


Die wichtigsten Wirtschaftstermine der kommende Woche

MONTAG

Brüssel - Daten für Draghi I - Die EU-Kommission veröffentlicht neue Zahlen zur Stimmung in der Wirtschaft (Economic Sentiment). Geht es weiter bergauf, dürften die EZB und ihr Präsident Mario Draghi bei ihrer Ratssitzung am Donnerstag keinen weiteren Handlungsdruck verspüren.

Wiesbaden - Preisfragen - Das Statistische Bundesamt gibt die Schätzung der Inflationsrate für Deutschland im Mai bekannt.

Bad Soden - Tarifrunde I - Beginn der Tarifverhandlungen für die deutsche chemische Industrie, zunächst in Hessen.

DIENSTAG

Wolfsburg - Diesel im Dunst - Hat der Diesel-Skandal Auswirkungen aufs Geschäft? Volkswagen berichtet vom ersten Quartal.

Luxemburg - Daten für Draghi II - Eurostat veröffentlicht eine erste Schätzungen zur Preisentwicklung in Europa im Mai.

MITTWOCH

Paris - Ratloser Westen - Die OECD bittet zum Ministertreffen und veröffentlicht ihren halbjährlichen Wirtschaftsausblick.

Schönefeld - Heiße Luft - In Berlin eröffnet die Internationale Luft- und Raumfahrtausstellung (ILA), gleich neben dem neuen Flughafen, dessen Eröffnungstermin gerade mal wieder in Frage gestellt wurde.

Frankfurt am Main - Tarifrunde II - Zweite Runde Tarifverhandlungen für die Beschäftigten der Banken in Deutschland.

DONNERSTAG

Wien - Kurs halten - Der EZB-Rat tagt, ausnahmsweise auswärts in Wien. Anschließend erläutert Präsident Draghi, wie die Notenbanker die Welt sehen.

Wien - Pro Quote - Die Ölminister der OPEC-Staaten beraten über die Förderstrategie für die kommenden Monate.

Karlsruhe - Tarifrunde III - Verhandlung für die Chemiebeschäftigten

im Südwesten.

FREITAG

Berlin - Ursachenforschung - Der Untersuchungsausschuss zum neuen Hauptstadtflughafen legt seinen Abschlussbericht vor.

Washington - Jobs, Jobs, Jobs - Die US-Arbeitsmarktsstatistik für Mai gibt weiteren Aufschluss darauf, ob die US-Notenbank schon bald die Zinsen weiter anheben wird, wie von einigen Gouverneuren angekündigt.

  • Roland Bäge
    Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für SPIEGEL ONLINE gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.

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