NSU-Prozess: 1000 Leitzordner, 100 Wochen, plus Urlaub

jeudi 28 avril 2016

Verteidiger Hermann Borchert, Beate Zschäpe

Verteidiger Hermann Borchert, Beate Zschäpe

Im NSU-Prozess hat Zschäpes Wahlverteidiger die Aussetzung des Verfahrens beantragt: Er müsse davon ausgehen, dass die ihm vorliegenden Digitalakten unvollständig seien. Dann begann er zu rechnen.

Es wird im NSU-Prozess stets mit einer gewissen Aufmerksamkeit registriert, wenn Hermann Borchert an den Verhandlungstagen teilnimmt. Der Jurist ist Wahlverteidiger der Hauptangeklagten Beate Zschäpe. Häufig gesehen hat man ihn im Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts allerdings noch nicht.

Borchert war es, der Zschäpe im Sommer 2014 bei ihrem ersten Entpflichtungsantrag gegen ihre Verteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm beraten hatte, mit denen die Angeklagte schon seit Monaten nicht mehr spricht.

Dies mag auch einer der Gründe dafür sein, dass viele Beobachter inzwischen davon ausgehen, dass längst Borchert die Fäden der Zschäpe-Verteidigung in den Händen hält - und nicht sein deutlich jüngerer und weniger erfahrener Kanzleikollege Mathias Grasel, der der Angeklagten im vergangenen Sommer als vierter Pflichtverteidiger beigeordnet wurde und seitdem Verhandlungstag für Verhandlungstag neben Zschäpe sitzt.

Borchert beantragt Einsicht

An diesem Donnerstag, dem 280. Verhandlungstag, war auch Borchert wieder da. Zuletzt hatte er für Zschäpe Dutzende Fragen beantwortet, die der 6. Strafsenat an die Angeklagte gerichtet hatte.

Und dieses Mal?

Es folgte ein Störmanöver, wie es sie zuletzt - etwa von der Verteidigung des Mitangeklagten Ralf Wohlleben - häufiger gegeben hatte: Borchert forderte die Aussetzung des Verfahrens. Das würde letztlich bedeuten, dass der NSU-Prozess platzt.

Die Begründung von Zschäpes Verteidiger: Er müsse davon ausgehen, dass die ihm vom Gericht auf einer externen Festplatte übergebenen Prozessakten nicht vollständig seien. Borchert bezog sich in seiner Argumentation auf eine Erklärung des Gerichts vor wenigen Wochen, wonach die Vollständigkeit der digitalen Akten nicht garantiert sei.

Er müsse in Erwägung ziehen, dass die Originalakten Fakten enthalten würden, "die möglicherweise entlastende Umstände für meine Mandantin beinhalten und die mir bislang unbekannt sind", so Borchert. Er beantragte deshalb Einsicht in sämtliche dem Gericht vorliegenden Originalakten.

Wohlleben scheiterte mit Antrag

Borchert führte weiter aus, dass es ihm praktisch nicht möglich sei, in angemessener Zeit die Originalakten mit dem ihm vorliegenden digitalen Aktenbestand zu vergleichen.

Es folgte eine kleine mathematische Abhandlung Borcherts: Er könne realistischerweise einen Aktenumfang von zwei Leitzordnern pro Tag bewältigen. Bei paralleler Sichtung zweier Seiten (Original und digital) sei davon auszugehen, "dass pro Minute fünf Seiten überprüft werden können, das heißt also in einer Stunde 300 Seiten. Bei durchschnittlich 450 Seiten pro Ordner errechnen sich zwei Ordner pro Tag. Hochgerechnet auf insgesamt 1000 Ordner errechnet sich wiederum eine Zeitdauer von 100 Wochen, also knapp zwei Jahren, wobei Feiertage und Urlaube nicht berücksichtigt sind." Derzeit sei der Prozess bis Januar 2017 terminiert - er könne aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Akteneinsicht abschließen, "selbst wenn sechs Stunden pro Tag gelesen würde".

Die Bundesanwaltschaft widersprach dem Antrag. Es bestehe die Möglichkeit, die Originalakten im Gericht einzusehen, erklärte Bundesanwalt Herbert Diemer. Ferner habe von Anfang an jedem Prozessbeteiligten klar sein müssen, dass die digitale Kopie möglicherweise nicht vollständig sei. Als Anwalt müsse man seine Kanzlei so organisieren, dass man die Akten auch dann erfassen könne, wenn man erst spät in das Verfahren eintrete.

Wegen der möglicherweise unvollständigen digitalen Aktenkopie hatte bereits die Wohlleben-Verteidigung die Aussetzung des Verfahrens beantragt, war damit aber gescheitert. Über den Antrag von Borchert muss das Gericht noch entscheiden.

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