Eine Frau mit Asperger-Syndrom wird erfolgreiche Ärztin, ein betroffener Junge will die Störung nicht wahrhaben. Beiden fällt der Alltag oft schwer. Zwei Menschen und ihre Krankheit im Porträt.
Christine Preißmann liebt Weihnachten so sehr, dass sie auch im Sommer "Stille Nacht" hört. Sie plant eine Reise allein in die Antarktis, doch wenn jemand von hochgeklappten Bürgersteigen spricht, bekommt sie Angst, weil sie befürchtet, diese würden wirklich verschwinden. Zur Examensfeier ihres Bruders ging sie in Jogginghose und Birkenstock-Latschen - das war zwar nicht angemessen, aber sie fand, es sei praktischer.
Bis zu ihrem 27. Lebensjahr wusste Christine Preißmann aus dem südhessischen Darmstadt nicht, warum es mit ihren Mitmenschen immer wieder Missverständnisse gibt. Es war für sie, als käme sie von einem anderen Planeten. "Schon in der Schule stand ich meist abseits", erinnert sich die Ärztin. "Während sich die anderen Mädchen über Kleidung, Musik oder Jungs unterhielten, interessierte ich mich für Weihnachtsmärkte, Pläne aller Art und große Flughäfen." Ihr Blick schweift durch den Raum, bleibt nur kurz auf dem Gesicht ihres Gegenübers hängen. Augenkontakt zu halten scheint ihr unmöglich.Ihr Medizinstudium schaffte Preißmann trotz negativer Prognose ihrer Lehrer mit links. Doch sie litt immer mehr unter der Einsamkeit, verfiel in Depressionen. Als sie sich psychotherapeutische Hilfe suchte, kam die Diagnose: Asperger-Syndrom, eine Störung aus dem Autismus-Spektrum. "Es war eine Erleichterung", sagt die heute 45-Jährige. Mittlerweile ist sie promovierte Ärztin für Allgemeinmedizin und arbeitet in einer Klinik für Suchtkranke. Und sie schreibt Bücher über Asperger-Autismus.
Leon hat nie geweint
Ganz anders war es bei Leon*, 14. Er bekam seine Diagnose bereits in der ersten Klasse. "Schon als Kleinkind war er anders", sagen seine Eltern. "Er hat nie geweint, auch im Krankenhaus nicht", erinnert sich sein Vater.
Wegen eines schweren Herzfehlers hatte Leon eine Integrationshelferin im Kindergarten. Ihr fiel seine körperliche Distanzlosigkeit auf. Leon drückte andere Kinder zu viel. Wenn alle zusammen musizierten, sang er eigene Lieder. Immer wenn etwas nicht so lief, wie er wollte, trotzte er vehement. Auch die Lebendigkeit seiner beiden jüngeren Schwestern störte ihn: "Noch heute erträgt er keine lauten Geräusche", sagt seine Mutter.
Eine Zeit lang dachten die Eltern, ihr Sohn leide an einer Wahrnehmungsstörung, weil er einfach nicht auf das reagierte, was man sagte. Schließlich wandten sie sich an das Sozialpädiatrische Zentrum in Darmstadt. Dort erkannte eine Psychologin bei Leon das Asperger-Syndrom. Obwohl die Diagnose früh gestellt wurde, bekam der Junge Probleme in der Schule. Er fiel wegen Zwischenrufen und Beschimpfungen auf.
Inselbegabungen sind die Ausnahme
Auch Preißmann litt in der Schule. "Oft begegnet man uns mit sehr viel Unverständnis", sagt sie. "Wir werden gemieden und beschimpft oder als unhöflich bezeichnet, was uns immer wieder weh tut."
Die Ärztin hat sich die Aufklärung über das Asperger-Syndrom zum Ziel gemacht. Sie reist durch die ganze Republik und in diesem Jahr erstmals auch nach Namibia, um Vorträge zu halten. Besonders wichtig ist ihr eine realistische Darstellung. Noch immer herrsche in vielen Köpfen das Bild von Menschen, die schaukelnd in der Ecke sitzen oder rätselhafte Sonderbegabungen haben. Dabei sind sie die Ausnahme.
Wie viele Menschen bundesweit an dem Störungsbild leiden, ist ungewiss. Preißmann spricht von 500.000 bis 800.000 Menschen, andere Quellen gehen von ein bis zwei betroffenen Kindern pro 1000 aus. Dass die Zahlen schwanken, liegt an unterschiedlichen Diagnosekriterien - einheitliche Standards gibt es noch nicht. Ärzte verwenden etwa die sogenannten Gillberg-Kriterien, die besonders deutlich die Verhaltensweisen von betroffenen Kindern schildern sollen. Damit "erkennen wir gegenwärtig etwa 50 Prozent aller Kinder mit Asperger-Syndrom", schreibt der Psychologe Tony Attwood in seinem Buch "Ein ganzes Leben mit Asperger-Syndrom". Diejenigen aber, die nicht an Spezialisten überwiesen würden und ihre Schwierigkeiten kaschieren könnten, entgingen der Wahrnehmung.
Menschen mit Autismus können soziale und emotionale Signale nur schwer einschätzen und haben ebenso Schwierigkeiten, diese auszusenden. Deshalb sind ihre Reaktionen auf Gefühle anderer Menschen selten angemessen, und sie haben Schwierigkeiten, ihr Verhalten an eine soziale Situation anzupassen.
Auch die Entwicklung des Sprachgebrauchs und des Sprachverständnisses ist betroffen: Autistischen Menschen fällt es schwer, etwa ihre Sprachmelodie oder ihre Tonlage an die Situation anzupassen. Ebenso gebrauchen sie kaum Gestik, um den Sinn einer Aussage zu unterstreichen.
Alltägliche Aufgaben führen Autisten meist starr und routiniert aus. Typisch sind sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten. Kinder beschäftigen sich beispielsweise gerne häufig mit Fahrplänen oder anderen Datensammlungen. Veränderungen von Handlungsabläufen oder etwa der Wohnungseinrichtung können Autisten Probleme bereiten und für teils heftige Reaktionen sorgen.
Häufig sind Menschen mit Asperger-Syndrom motorisch ungeschickt. Die meisten von ihnen besitzen eine normale allgemeine Intelligenz; in Teilgebieten kann ihre Intelligenz besonders hoch sein. Oft wird die Diagnose Asperger-Syndrom erst im Jugend- oder Erwachsenenalter gestellt.
Autistische Kinder können zunächst keine Geste, kein Lächeln, kein Wort verstehen. Sie ziehen sich zurück und kapseln sich ab. Jede Veränderung in ihrer Umwelt erregt sie stark. Autistische Kinder können nicht spielen und benutzen ihr Spielzeug in immer gleicher, oft zweckentfremdeter Art und Weise. Sie entwickeln Stereotypien: etwa das Drehen und Kreiseln von Rädern und anderen Dingen, das Wedeln mit Fäden oder Papier.
Autistische Kinder haben häufig vom Säuglingsalter an Probleme beim Essen und beim Schlafen und entwickeln selbststimulierende Verhaltensweisen, die bis zur Selbstverletzung reichen können. Sie bestehen zwanghaft auf ganz bestimmten Ordnungen. Sie weigern sich beispielsweise, bestimmte Kleidung zu tragen, wiederholen immer wieder bestimmte Verhaltensweisen oder sprachliche Äußerungen oder sammeln exzessiv bestimmte Gegenstände. Oft bringen sie damit ihre Eltern zur Verzweiflung.
Die intellektuelle Begabung autistischer Kinder ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von geistiger Behinderung bis hin zu normaler Intelligenz. In Teilbereichen entwickeln die Kinder häufig erstaunliche Fähigkeiten, etwa in technischen Disziplinen oder der Musik.
Schätzungen zufolge sind in Europa, Kanada und den USA ein bis zwei von tausend Kindern von frühkindlichem Autismus betroffen. Verlässliche Zahlen, wie häufig die Störung in Deutschland auftritt, gibt es bisher nicht. Zwar können autismusbedingte Beeinträchtigungen mit Hilfe spezieller Therapien und Trainings gebessert oder kompensiert werden. Eine Heilung ist aber nicht möglich. Die meisten Menschen mit Autismus benötigen lebenslange Hilfe und Unterstützung.
Trotz umfangreicher Forschungsergebnisse gibt es bisher kein Erklärungsmodell, das vollständig und schlüssig die Entstehungsursachen des frühkindlichen Autismus belegen kann.
Quelle: autismus Deutschland e.V.
In der Gruppentherapie lernt Leon gemeinsam mit anderen autistischen Kindern durch die Spiegelung seines Verhaltens, wie der Umgang miteinander besser klappen kann. Denn nicht nur in der Schule, auch im Familienleben gibt es Schwierigkeiten, gemeinsame Unternehmungen können kaum stattfinden. Sie unterbrechen Leons Routine und machen ihn unsicher. Gemeinsames Spielen mit den Geschwistern scheitert, weil er darauf pocht, dass alle seine Regeln einhalten.
Warum es hilft, Redewendungen auswendig zu lernen
Wie man sich gegenüber den Mitmenschen verhält ohne anzuecken, hat Christine Preißmann mühevoll gelernt. Sie hat Hunderte Redewendungen auswendig gelernt, die sie ansonsten wörtlich genommen hätte. Bei ihrer ersten Stelle in einer Arztpraxis schickte sie Patienten, die sich wenige Minuten verspätet hatten, wieder nach Hause. "Der Termin war vorbei", erinnert sie sich. Heute ist ihr klar, dass dieses Verhalten problematisch war. Trotzdem wird sie noch immer nervös und ungehalten, wenn jemand auch nur wenige Minuten zu spät zu einer Verabredung erscheint.
Wie die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom hat sie Schwierigkeiten, Gefühle bei anderen wahrzunehmen. Trotzdem sei der Umgang mit ihren Patienten kein Problem. Während Kollegen es jemandem vielleicht sofort anmerkten, dass er traurig sei, frage sie nach seinen Umständen und komme so zur selben Diagnose. Außerdem habe sie den Eindruck, dass die Patienten ihre Ehrlichkeit und Offenheit schätzten. "Menschen mit Asperger können nicht lügen", sagt sie. In ihrem Beruf hält sie das für einen Vorteil.
In ihrem neuen Buch "Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus" (Kohlhammer, 2016) hat sie Berichte von Betroffenen gesammelt und geht der Frage nach, was Glück für sie bedeutet.Trotz ihres Erfolgs im Beruf ist es die Einsamkeit, die Preißmann zu schaffen macht. Menschen zu finden, die "so sind wie ich", fällt ihr schwer. Menschen, die Dinge so meinen, wie sie sie sagen und keine Höflichkeitsfloskeln austauschen. Denn obwohl sie Nähe zu anderen oftmals als anstrengend erlebt, sehnt sie sich danach.
Auch Leon, der am liebsten allein in seinem Zimmer sitzt und Computer spielt oder liest, wünscht sich mehr Kontakt zu Freunden. Dieser kommt aber nur selten zustande. "Einmal haben mich meine Klassenkameraden vor einem Geschäft stehen gelassen", erzählt der 14-Jährige. Ein anderes Mal haben sie ihn ausgelacht, weil er sich mit Eis bekleckert hat, ohne es zu merken. Seine Eltern sagen, obwohl sich er über das Störungsbild im Klaren sei, wolle er es einfach nicht wahrhaben. Leon selbst meint: "Die anderen haben das Problem."
*Name von der Redaktion geändert
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